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Ein flüchtiger Blick ein kleiner Flirt -Streetfotografie...... darf ich das ? a story maybe based on true events 62 dayˋs to N.Y

Aktualisiert: vor 7 Tagen

Während ich mit meiner braunen Fototasche über der rechten Schulter in Richtung Stadt laufe, mache ich mir einen Plan, wo ich heute überall hin und was ich fotografieren möchte. Nichts muss, alles kann – und das ist gut.

So in Gedanken versunken sehe ich dich: blaue Jeans, ein rotes Oberteil, ein flüchtiger Blick. Du bist auffallend, aber nicht extravagant. So schnell wie wir uns gesehen haben, bist du auch schon aus meinem Blickwinkel verschwunden. Wie viele Menschen, denen ich heute flüchtig begegne.

10.30 Uhr: Ich bin vom Bahnhof her kommend in der Stadt angekommen, nehme die Kamera und lege den Lederriemen um den Hals, gleichzeitig halte ich sie mit festem Griff in der rechten Hand. Es ist eine Sony A7RII mit einem 24-105er G OSS F4-Objektiv – eine Kamera, die in dieser Kombination sicher auffällt. Eigentlich zu groß und zu schwer für die Streetfotografie, jedoch möchte ich sie testen für unseren New-York-Trip im Sommer.

Zuviel passiert um mich herum, daher kann ich die Kamera nicht in der Fototasche lassen. Was ist, wenn ich den einen Moment oder die eine Szene verpasse? So wie der Moment, an dem wir uns vorhin kurz flüchtig gesehen haben, wobei ich mich selbst frage, ob ich einen solchen Moment auch fotografisch festhalten soll – darf ich das?

Ich merke, wie der Flow einsetzt – der Moment, in dem meine Wahrnehmung und mein Denken auf Fotografie umstellen. In dem Moment entgleite ich in eine andere Welt. Die Stadt hat mich in ihrem Bann, sie verschlingt mich, nimmt mich in Besitz und verändert mich. Sie macht mich zu einem Mitglied des Schwarms, zu einem unwichtigen Individuum in der Masse, die sich mal langsam, mal schnell durch die Straßen und Gassen bewegt. Die Stadt setzt mir auch eine Art Maske auf. Wer und was bin ich? Street Photographer? Tourist? Beobachter? Ein Angestellter beim Pendeln? Oder nur ein "Landei" in der Stadt? Ich kann alles sein, was ich möchte – und doch bin ich gleichzeitig alles, was die Leute um mich herum von mir denken.

Was dachtest du? Hast du mich überhaupt wahrgenommen? Oder bin ich im Rauschen der Großstadt verschwunden? Es spielt keine Rolle mehr, denn um mich herum passiert zu viel – ich muss mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Ich laufe zwischen den Hochhäusern durch die Straßen, sehe Spiegelungen in den Gebäuden, eine Passantin auf dem Weg ins Yoga, eine Vespa am Straßenrand, ein E-Scooter, der auf dem Kopf steht. Ich gehe über eine Brücke und sehe die Stadt hinter Gittern. Am Ende der Brücke erscheint eine Straße mit Bäumen, einem LKW – eine alltägliche Situation, doch das Hochhaus im Hintergrund lässt sie surreal wirken. All das ist ein Foto wert – für mich.

Die Kunst der Streetfotografie ist für mich, Szenen und Momente zu entdecken, die es wert sind, festgehalten zu werden – Graffitis, die irgendwann verschwinden werden oder unsere kurze Begegnung. Doch davon habe ich kein Foto, nur den verschwommenen Moment, der in meinem Kopf geblieben ist. Doch es ist etwas geblieben – ein Foto in meiner Erinnerung... Darf ich das?

Ein Ritual, das sich bei mir eingestellt hat, ist der Besuch des Leica Stores in der Kuttelgasse 4 (keine bezahlte Werbung ;-) ). Schon das Öffnen der Tür fühlt sich an, als ob ich eine mir verschlossene Welt betrete. Wie all die Leute, die an der Bahnhofstraße anstehen, um den Louis-Vuitton-Store oder das Audemars-Piguet-House zu besuchen. Ich gehe rein – mit dem Wissen, dass ich mir die Kameras und Objektive aktuell nicht leisten kann. Ich schaue in die Vitrinen, sehe mir die wundervollen Kameras an: eine M6 Analog, eine Leica CL, die neue M11 – mit dem Wert eines Kleinwagens, ohne Objektiv versteht sich... Es ist Poesie pur. Meine Gedanken gleiten ab. Mit einer M11 Monochrom wäre es wohl legitim, dich zu fotografieren, dich aus der Menge hervorzuheben. Die großen Meister haben es ja vorgemacht... Warum eigentlich du? Warum erscheinst du mir immer wieder?

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“ ertönt die Stimme eines Sales Consultants. Ähhh... nein danke, ich träume nur ein wenig... Er muss ja nicht wissen, wovon. Mein Blick gleitet ein letztes Mal über die Kameras, dann verlasse ich den Laden mit einem freundlichen „en schöne Tag no...“

Ich gehe die Gasse hinauf zum Amazonenbrunnen, links die Treppen hoch Richtung Lindenhof. Hm, ein Café – das wär doch jetzt was. Animiert von der handgeschriebenen Werbung gehe ich zur Rechten in ein kleines Kaffee. „Hallo, was kann ich dir anbieten?“ – werde ich mit freundlicher Stimme begrüßt. „Einen normalen Kaffee, gerne...“ – „Ähm, also einen Café Americano?“ entgegnet die Frau hinter dem Tresen.

Shit. Jetzt habe ich mir so Mühe gegeben, urban zu wirken, als Teil des Rauschens der Großstadt – und werde durch eine einfache Frage als Landei enttarnt. Mit dieser einfachen Frage macht sie mich zu dem, der ich bin – und wirft mich brachial in die Realität zurück. Doch ich nehme es ihr nicht übel, entgegne postwendend mit einem Lächeln: „Ja, gerne“, um die Situation zu retten... Ich nehme den Kaffee – ein wenig Zucker... „Habt ihr Milch?“ – und schon wieder... „Ääh, hätte da ein wenig Vollmilch – ist das okay?“ Immerhin führt sie mich mit ihrem Lächeln zurück in die Stadt. Für eine Sekunde sehe ich sie in einem wunderschönen Porträt. Soll ich sie fragen, ob ich ein Bild von ihr machen darf...? Darf ich das?

Unverrichteter Dinge gehe ich die Treppen hinauf zum Lindenhof. Hier ist es immer interessant, denn die Locals arrangieren sich mit den Touristen zu einem wundervollen Potpourri an Eindrücken. Zu gerne würde ich die Menschen porträtieren – ihre Emotionen und Handlungen fotografieren. Aber ich mache es nicht. Ich respektiere sie – es ist ihr Moment. Wenn, dann mache ich ein Foto in einem weiten Winkel von 25 bis 35mm, auf dem eine ganze Szenerie abgebildet ist. Dadurch exponiere ich niemanden und begehe auch keine Datenschutzverletzung oder dergleichen. So viel erlaube ich mir unter der künstlerischen Freiheit.

Warst du das? Bist du hinter dem Baum verschwunden? Nein – du hattest doch ein rotes Oberteil an und nicht einen schwarzen Pullover. Wobei – das Wetter hat ein wenig umgeschlagen, es ist kälter geworden.

Ich gehe zu der Mauer, von der man die Limmat und die ganze Stadt sieht, schaue durch den Sucher und löse drei... viermal aus. Es ist nicht das, was ich suche. Stadtbilder gibt es zur Genüge. Kein Moment, keine Emotionen... Ich setze mich auf eine Bank neben dem Brunnen und trinke den Kaffee. Auf dem Bildschirm der Sony betrachte ich meine Bilder, zoome rein und sehe mir die Farben und die Schärfe an. Oh ja – das Objektiv ist großstadttauglich. Das kommt mit nach New York.

Gedankenversunken blicke ich vom Bildschirm auf. Mein Blick gleitet über die Liebesschlösser an den Eisenverschlägen, über den Brunnen rüber zur Mauer. Eiskalt läuft es mir den Rücken runter... bist du mir gefolgt? Du sitzt da und beobachtest mich – in einem schwarzen Pullover. Langsam hebst du deinen Becher – er verrät, dass du im selben Café warst wie ich. Du drehst dich zur Seite weg, als ich dich entdeckt habe... Wer bist du? Was machst du? Was denkst du über mich? Wer bin ich für dich? Während ich mir die Fragen stelle, umfasst meine Hand die Kamera und hebt sie an. Mein Zeigfinger löst sich, wandert in Richtung Auslöser... Du stehst auf, schaust in meine Richtung, wirfst deinen Becher in die Mülltonne zu deiner Linken, während du deinen Blick nicht abwendest... Der Sucher der Kamera ist auf der Höhe meines Auges. Der Zeigfinger drückt den Auslöser zur Hälfte, um scharfzustellen, während die linke Hand den Zoom des Objektivs auf 75mm dreht. Die Automatik stellt auf F4 um – freizustellen... Du drehst dich weg und läufst davon... war’s das? Doch du drehst dich nochmals um... Ich sehe deine Augen durch den Sucher, du spielst mit mir... Mein Zeigfinger baut Druck auf... darf ich das?

... Klick ... In dem Moment stolperst du und schaust nach vorne, gehst deinen Weg. Die Kamera senkt sich nach unten... Das war er. Unser Moment. Es muss nicht mehr sein. Es ist okay – für dich und für mich... Du gehst deinen Weg, ich schaue auf den Bildschirm.......


 
 
 

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